Konzert Kritik: Frankfurt, 05.Februar 1996
Das
Medium ist der Musiker
Matthias
Kaul spielte in Frankfurt das perkussive Werk von James Tenney.
Am Anfang war das Idiophon - zumindest was die nicht - vokale Musik betrifftt.
Das Fallen eines Regentropfens auf einen Stein, das Brechen eines Astes,
das Aufschlagen eines weggeworfenen Knochens mögen erste musikalische Äußerungen
von Primaten evoziert haben. Die rasanten Trommelwirbel einem Spechtes dienen
der Nahrungssuche, das Slap-stick-Klappern des Storches der Fortpflanzung
und dem Familienzusammenhalt, doch ein Schimpanse kann einfach rumsitzen
und Stöcke oder Steine aufeinanderschlagen, um seinen keckernden Gesang
zu untermalen einfach so, aus einer Lust heraus. Am Ende war der Geräuschteppich.
Vom Prasseln eines Regenschauers auf das urwäldliche Blätterdach über Saties
musique de rneublement bis elevator music sind wir umgeben von natürlichen
oder kultürlichen Klängen, die wir, je nach Rezeptionsbereitschaft als Lärm
oder Töne aufnehmen. Für James Tenney kann selbst der Verkehrslärm an der
Straßenkreuzung im richtigen Wahmehmungszustand zu Musik werden. Tenney
hat sich, nach intensiven Ausflügen in die elektronische Musik, wieder auf
die Ursprünge besonnen und komponiert in den letzten Jahren verstärkt für
Perkussionsinstrumente. Doch was heißt: komponiert? Abgesehen von den aleatorischen
Elementen, die bereits in den sechziger Jahren mitbestimmend für Tenneys
Arbeiten waren, hat kaum ein Komponist John Cages Definition der experimentellen
Musik so radikal angewandt wie Tenney: Seine Partituren sind Handlungsanweisungen,
bei denen Komponist und/oder Interpret dieMusik genauso neu entdecken wie
das Publikum. Die Bühne im Frankfurter Theaterhaus, in dem die Serie "Theaterhaus
Konzerte" des Hessischen Rundfunks gegeben wird, ist angefiüllt mit
musikalischem Gerät: viel Metall eine Reihe Membranophone, Holz und eine
von einem überdimensionalen Bogen gespannte Stahlsaite, die nach Bedarf
gestrichen oder geschlagen werden kann. Der Zu- schauerraum ist erstaunlich
gut gefüllt mit Fachpublikum. Matthias Kaul, seit mehr als zehn Jahren Mitglied
des Ensembles l'art pour l'art, kniet vor einem freischwingend aufgehängten
Tam Tam und beginnt, es mit großen Filzschlegeln zu bearbeiten. Leise, kaum
hörbar, beginnt sich ein Sirren im Raum zu verbreiten, zunächst mehr als
ein Gefühl dann erst als ein Geräusch, das sich über das Surren der Klimaanlage
erhebt, schließlich als eine Musik voller vielfältiger obskurer Obertöne,
die sich scheinbar von der Bündelung der Grundtöne lösen wollen, doch -
bei aller vermeintlicher Entfernung von diesen - natürlich nicht wegkommen.
So schwirren sie durch den Raum, steigern sich in ein Crescendo, kehren
zurück zu ihren Erzeugerklängen und auf einmal, wenn man die Augen schließt,
scheint es, als kreise das ganze Instrument durch den Saal, als sei dieser
Saal - selbst bei relativ trockener Akustik - selbst Instrument, und man
ist nicht mehr sicher, ob diese ins Unendliche gehende Klangbündelung nun
wirklich dem Tam Tam entstammt oder im eigenen Kopf entsteht. Kaul wechselte
zu kleineren Schlegeln, zu kleineren Instrumenten, und wenn er in rasenden
Läufen über Becken dahinfegt, die auf Trommelfellen liegen, so daß - egal,
was er anschlägt - die Becken den Trommelklang und die Felle die Beckentöne
beeinflussen und verändern, so bleibt doch in dieser Gesamtheit jeder einzelne
Ton stehen als Bestandteil der Universalität von Klängen. Man weiß nicht,
ob man Kaul überhaupt als Musiker im abendländischen Sinne bezeichnen kann.
So wie er da sitzt, steht oder geht, ist er nur ein Medium, dessen einzige
Aufgabe es ist, die in jedem Instrument schlummernden Töne herauszulassen,
ein Magier, der nichts erzwingen will, aber alles ermöglichen kann. Das
hat nichts mit pseudomeditativer Versenkung zu tun, der die Apologeten einer
in Mode gekommenen world music anheimfallen, sondern mit der sinnlich erfahrbaren
Erkenntnis, daß die Welt ohnehin aus Musik besteht, und daß rnan sie nur
herauslassen (bzw. -hören) muß. In der Freiheit der Interpretation, die
Tenney Kaul überläßt, steckt auch die Freiheit der Rezeption, und so entsteht
im Kopf eines jeden Zuhörers ein anderes Stück, und diese Dutzende verschiedener
Stücke ergeben erst in ihrer Gesamtheit - ähnlich der Bündelung, Verselbstständigung
und Einheit der unendlichen Zahl von Obertönen - die eigentliche Komposition,
die jeweils an jedem Aufführungsort neu entsteht, deren Prozeß nachzuvollziehen
und neuzuerleben ist und die dem teleologischen Determinismus des Industriezeitalters
die Erkenntnis entgegenstellt daß der Weg das Ziel ist. Frankfurter Rundschau,
Michael Rieth FRANKFURT A.M.